Familie Lisa und Jakob Orchan
Jakob Orchan wurde 1893 im polnischen Dabie geboren. 1922 zog er nach Euskirchen, wo sein Bruder Abraham mit seiner Familie lebte.
Mitte der 1920er Jahre lernte er die 1901 geborene Lisa Barlas kennen. Die beiden heirateten 1925 standesamtlich. Im Jahr zuvor hatten sie sich in Köln bereits in einer religiösen Zeremonie das Jawort gegeben. Jakob Orchan war Altwarenhändler und seine Frau Lisa half im Geschäft mit.
Kurz nach der Hochzeit wurde der gemeinsame Sohn Felix in Euskirchen geboren. Seine Schwester Hanna kam 1928 zur Welt, Nesthäkchen Leo wurde 1930 geboren.
Nach der Ernennung Hitler zum Reichskanzler im Jahr 1933 wurden bis 1945 viele Millionen Menschen wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt. Sie wurden entrechtet, terrorisiert und angefeindet.
Am 1. April 1933 rief die neue nationalsozialistische Regierung zu einem Boykott aller jüdischen Geschäfte auf. Auch in Euskirchen formierte sich die SA zu einem Fackelzug und verklebte Schaufenster jüdischer Geschäfte und behinderte die Kunden an deren Betreten. Wer noch in jüdischen Geschäften Besorgungen erledigte, wurde solange angefeindet, bis niemand mehr dort einkaufte.
Schräg gegenüber von Familie Orchan wohnte in der Hochstraße 33, die nach dem Boykottag in Adolf-Hitler-Straße umbenannt wurde, der Kreisleiter und Gründer der Euskirchener NSDAP. Viele Abmärsche und Propagandazüge starteten vor dem Haus des Kreisleiters. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Ende Januar 1933 soll aus der Wohnung des Dr. Faßl in die Wohnung von Jakob Orchan hineingeschossen worden sein. Als sich Jakob Orchan, über diesen Vorfall aufregte, angeblich soll er einen „Tobsuchtsanfall“ gehabt haben, hätte man ihn in einer Zwangsjacke abgeführt. Er starb wenig später am 10. Mai 1933 in der Heil- und Pflegeanstalt Bonn. Die fragwürdigen Umstände seines Todes konnten nach heutigem Forschungsstand nicht ermittelt werden.
Nach dem Tod ihres Mannes führte Lisa Orchan das Geschäft alleine fort. Sie musste nun für sich und ihre drei noch sehr jungen Kinder alleine sorgen.
Der Besuch einer Schule für jüdische Kinder wurde ab 1933 weitestgehend verboten. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Schüler durfte höchstens 1,5 % betragen. Lehrer und Mitschüler schikanierten und diskriminierten jüdische Schülerinnen und Schüler. Später wurden sog. Sammelklassen für die jüdische Schülerschaft eingerichtet, damit diese nicht mehr mit den nicht-jüdischen Schülern unterrichtet wurden, bis sie schließlich ab 1938 nur noch jüdische Schulen besuchen durften und ab 1942 gar keine Schulen mehr.
Im Sommer 1938 wurde Lisa Orchan gezwungen ihr Geschäft aufzugeben.
Am 27. und 28. Oktober 1938 ließ das NS-Regime rund 17.000 im Deutschen Reich lebende Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaften, ausweisen und gewaltsam zur polnischen Grenze verbringen. Unter ihnen waren auch Lisa Orchan und ihre Kinder.
Diese als „Polenaktion“ bezeichnete Zwangsausweisung war die erste Massendeportation aus dem Deutschen Reich. Die Verhaftung kam für die Betroffenen vollkommen überraschend. Sie durften nur wenige Habseligkeiten mitnehmen. In bewachten Sonderzügen transportierte die Reichsbahn sie anschließend an die deutsch-polnische Grenze. Die meisten wurden zur Grenzstadt Neu-Bentschen/Zbaszyń gebracht, andere nach Konitz in Pommern oder Beuthen in Oberschlesien. Lisa Orchan wurde mit ihren Kindern nach Zbaszyń gebracht.
Der erste Transport dorthin konnte die Grenze noch passieren, weil die polnischen Grenzbehörden völlig überrascht waren. Später verweigerten sie die Einreise. Die deutschen Polizisten und Wachleute trieben die ausgewiesenen Jüdinnen und Juden daraufhin zu Fuß über die Felder in das Niemandsland im Grenzbereich.
Die Bedingungen vor Ort in Zbąszyń waren vor allem in den ersten Tagen und Wochen katastrophal. Allmählich entstand ein Auffanglager mit Notunterkünften, in denen mehr als 8.000 Menschen teilweise monatelang festsaßen. Jüdische Hilfsorganisationen wie das American Joint Distribution Committee unterstützten sie. Einigen Ausgewiesenen erlaubte das NS-Regime schließlich die vorübergehende Rückkehr nach Deutschland, um ihren Besitz zu verkaufen und ihre Emigration ins Ausland zu organisieren. Anderen gestatteten die polnischen Behörden die Weiterreise ins Landesinnere Polens, sofern sie dort Verwandte hatten. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 fielen diese Jüdinnen und Juden erneut unter deutsche Herrschaft. Nur wenige von ihnen überlebten den Holocaust.
Lisa Orchan und ihr neunjähriger Sohn Leo wurden in Zbąszyń interniert. Ihr Schicksal konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Beide wurden 1965 für tot erklärt.
Etwas mehr als 100 Kinder, deren Familien im Oktober 1938 von deutschen Behörden als über die deutsch-polnische Grenze nach Zbąszyń abgeschoben wurden, konnten mit einem Kindertransport nach England gerettet werden.
Unter ihnen waren auch Felix und Hanna Orchan.